Im Innenhof des Kulturzentrums Estudi General Lul·lià in Palma klettern drei Männer auf einem quadratischen Turm aus Strohballen herum. 50 an der Zahl werden es am Ende sein, und akzeptiert wurden nur die saubersten und hellsten Halme, die die Cooperativa Agrícola de Porreres liefern konnte. Denn was hier aufgebaut wird, ist keine Deko für ein Erntedankfest, sondern ein Werk des renommierten brasilianischen Konzeptkünstlers Cildo Meireles. Der 76-Jährige ist einer der bedeutendsten Vertreter seiner Generation, seine Kunst präsent in namhaften Institutionen wie dem MoMA, der Tate Modern oder dem MACBA. 2008 erhielt er den Premio Velázquez.
Dass nun vier selten in Europa gezeigte Arbeiten von Meireles in Palma zu sehen sind, ist der 2022 gegründeten Stiftung ALTTRA zu verdanken, die zeitgenössische Kunst fördern und in besonderen Kontexten zeigen will. Vier Tage vor der Eröffnung der Ausstellung, die sich über drei Orte in der Altstadt erstreckt, hat die MZ den Künstler bei den Aufbauarbeiten getroffen. Der Brasilianer strahlt eine ungeheure Ruhe aus und scheint sich mental auf mehreren Zeitebenen zu bewegen: Er spricht über Projekte aus den 70er-, 80er- und 90er-Jahren, als wäre es gestern gewesen, und begreift sein Werk wohl als Kontinuum. Was Sinn ergibt: Es sind konzeptuelle Arbeiten, die an vielen Schauplätzen immer wieder neuartig Gestalt annehmen können.
Vereinigung zweier Gegensätze durch die Kunst
Das Stroh-Gebilde, das den Titel „Fio“ trägt, stellte er im Reina Sofia in Madrid tonnenförmig in einem Innenraum aus. Die Form ist unerheblich, denn auf das Zusammenspiel mit zwei weiteren Elementen kommt es an: einem hauchdünnen, hundert Meter langen Faden aus Gold, der das Stroh praktisch unsichtbar umspannt, und der sprichwörtlichen Nadel, die sich irgendwo verbirgt. „Die Idee war, etwas Monochromes zu erschaffen, ein Ding in einem anderen zu verstecken, die Grenzen zwischen beiden aufzulösen“, erklärt Meireles. Die Müllerstochter aus Grimms Märchen „Rumpelstilzchen“, die daran verzweifelte, Stroh zu Gold zu spinnen, hätte wohl ihre Freude an diesem Werk gehabt, denn: „Es geht um die Vereinigung zweier Gegensätze durch die Kunst, dem Goldfaden als wertvolles und dem Stroh als bescheidenes Material“, so Meireles. Gegensätze und Widersprüche gehören zu seinen zentralen Themen.
In einem kleinen Raum im ersten Stock des Kulturzentrums ist eine zweite Arbeit zu sehen – beziehungsweise zu hören: die 1976 konzipierte Klanginstallation „Río Oír“, ein Palindrom. Dabei nahm Meireles zum einen das Rauschen des Wassers an den Quellen der drei wichtigsten Flüsse Brasiliens auf, zum anderen das Lachen von Kindern und Erwachsenen. Eine hypnotische Oper, die dazu einlädt, über unseren Umgang mit Wasser nachzudenken, das gerade auf einer Insel wie Mallorca eine knappe Ressource ist – obwohl sie von Wasser umgeben ist. Der Künstler, der sich nach eigener Aussage selbst kaum vorstellen kann, an einem Ort ohne Flüsse zu leben, verweist auf weitere Projekte, in denen er die Wasserknappheit thematisierte. So brachte Meireles 2002 bei der documenta 1 1 in Kassel 300.000 Mal nur aus Wasser bestehendes Wassereis am Stiel mit den Beschriftungen „Verschwindendes / Verschwundenes“ unters Volk.
Klanginstallation mit besonderer Stimme
Für den Geschmackssinn ist bei der jetzigen Ausstellung nichts dabei, dafür wird noch ein weiteres Mal unser Gehör angesprochen: Im Col·legi Oficial d’Arquitectes Illes Balears ist die Klanginstallation „Alto“ mit vier unterschiedlich großen Lautsprechern aufgebaut, aus denen eine Stimme die einzelnen Zentimeter eines Maßbands aufzählt. Einen passenderen Ort hätte die Stiftung ALTTRA kaum finden können, denn Architekten arbeiten bekanntlich mit exakten Maßeinheiten und entsprechenden Instrumenten. Das Werk lässt jedoch unser Bestreben, die Welt nach solchen Prinzipien zu ordnen, an deren chaotischer Natur zerschellen. „Es ist eine Art Chiasma (Überkreuzung, Anm. d. Red.) von physischem und klanglichem Volumen“, sagt Meireles. Aus dem größten Lautsprecher kommt der leiseste Ton, aus dem kleinsten der lauteste.
Das Konzept dieses Projekts, das unsere Wahrnehmung irritiert und fordert, reicht bis 1977 zurück. Doch es sollte rund 40 Jahre dauern, bis Meireles es in die Tat umsetzen konnte. Der Künstler erklärt: „Ich dachte immer an eine ganz besondere Stimme: Íris Lettieri.“ Die Frau, die für ihre legendären Durchsagen am Flughafen Rio de Janeiro bekannt ist, sollte es sein, niemand sonst. Er habe Freunde, die bei ihrer Ankunft eine Stunde länger am Airport verweilen, nur um ihrem Timbre zu lauschen, sagt Meireles. Erst 2018 gelang es, die Sprecherin zu kontaktieren und für eine Aufnahme zu gewinnen.
Ein Besen, der etwas schmutzig macht
Die vierte Arbeit in Palma zählt zu den bekanntesten des Brasilianers: „La Bruja.“ Im Espai Buit, wo sich früher die Galería Horrach Moyà befand, versinkt der erste Stock in einem Teppich aus 2.200 Kilometern schwarzen Baumwollgarns – betreten erlaubt. Das Material stellte die Stoffmanufaktur Teixits Riera in Lloseta und soll am Ende zurückgegeben werden. Die Fäden quellen aus den Fenstern hinaus, wuchern bis ins Treppenhaus. Ein Wirrwarr und Kuddelmuddel sondergleichen. Und erneut geht es hierbei um das Chaos, dem eine Ordnung und ein Sinn auferlegt werden. Denn in einer Ecke im Raum ganz rechts befindet sich der scheinbare Urheber des Ganzen: Dort läuft das Garn an der Wand in einem Besen zusammen. „Der Witz ist: Wir haben hier einen Besen, der etwas schmutzig macht. Ich liebe es, mit Paradoxien zu arbeiten“, sagt Cildo Meireles vergnügt.
Werke von Cildo Meireles, 16. November 2024 bis 11. Januar 2025, geöffnet Mo.–Sa. 11–15 Uhr.
Drei Ausstellungsorte im Zentrum von Palma:
Estudi General Lul·Lià, Carrer de Sant Roc, 4
Col·legi Oficial d’Arquitectes Illes Balears (COAIB), Carrer de la Portella, 14
Espai Buit, Plaça Sa Drassana, 15.
Weitere Infos zum Projekt finden Sie im Netz unter alttra.org
Abonnieren, um zu lesen
Comments