Ein schweigsamer, schwarz gekleideter junger Mann mit quietschgelber Fliege spielt den Hamlet mit Totenschädel, raschelt mit einer güldenen Girlande. Die MZ-Autorin geleitet er galant zur Toilette, testet pantomimisch die Luftqualität und bietet seine Türsteher-Dienste an. Viel Zeit zum Akklimatisieren bleibt nicht: Show und Schabernack beginnen an diesem Abend schon im Eingangsbereich der Escena 101 in Palmas Viertel Arxiduc.
Improvisation ist alles. Zumindest für die acht kreativen Köpfe – allesamt professionelle Improtheater-Schauspieler – von den fünf Kompanien Visitas Impro, Camaleónicos, Olvídalo Todo, Monstruas und Mutis. Mithilfe einer Crowdfunding-Kampagne und mit viel Herzblut haben sie diese selbstverwaltete Bühne auf Mallorca gegründet und mit eigenen Händen aufgebaut. „Wir sind das einzige Kollektiv weltweit, das ein solches Projekt gestartet hat. Nirgendwo sonst gibt es eine Bühne speziell für Impro-Theater, bei der sich fünf verschiedene Gruppen zusammengeschlossen haben, um gemeinsame Sache zu machen“, sagt Oliver Romero, der sich heute am Einlass platziert hat. Zudem sei der Impro-Theatersaal, in den bis zu 100 Zuschauer passen, der größte seiner Art in Spanien.
Impro ohne Sommerpause
Dass die Initiative im November 2023 in Gestalt eines gemeinnützigen Vereins das Licht der Welt erblickte, hat eine etwas kuriose Begleiterscheinung: Wer eine Aufführung sehen möchte, muss zunächst einmal Mitglied werden. 3.200 sind es mittlerweile. Der Anmeldeprozess geht jedoch fix und die Mitgliedschaft ist kostenlos. Mit einem handbeschrifteten Kärtchen ausgestattet, ist man dann befugt, den Raum zu betreten. Der psychologische Effekt ist beträchtlich: Man fühlt sich direkt als Teil einer Familie und spürt ein gewisses inneres Bedürfnis, schon bald wiederzukommen.
Gelegenheit dazu hat man genug: Zusammen bestreiten die fünf Ensembles rund 16 Aufführungen pro Monat, vor allem freitags, samstags und sonntags, wobei jede Gruppe verschiedene Formate auf Lager hat. „Am Donnerstag spielen wir manchmal eine Kollektiv-Show oder haben ein spezielles Event“, betont Romero. Kürzlich gab es etwa ein Konzert mit Live-Painting. Und oft dürfen dann auch Impro-Schüler auf die Bühne, denn Unterricht und Workshops für verschiedene Niveaus gehören ebenfalls zum Konzept der Escena 101.
Im Gegensatz zu den meisten Theatern der Insel gönnt sich die Bühne keine Sommerpause. „Es ist ja unser erstes Jahr, deshalb probieren wir einfach aus, wie es läuft“, sagt Romero. Nach dem Anfangs-Boom in den Wintermonaten käme nun zwar etwas weniger Publikum. Aber für einen Freitagabend während der EM können sich rund 25 Zuschauer, die sich vorfreudig mit Popcorn und Getränken versorgen, durchaus sehen lassen.
Schweigen ist Gold
Die heute spielende Kompanie Mutis Impro, bestehend aus Bru, Chuli, José, Oli und Carlos, nimmt eine gewisse Sonderstellung ein. Denn ihre Shows funktionieren ganz ohne Text. Das Projekt entstand 2022 aus dem Wunsch heraus, die Qualität des Impro-Theaters auf der Insel zu verbessern und ihm eine neue Facette hinzuzufügen, erklärt Romero: „Es wird immer so viel geredet. Wir sagten uns: Warum versuchen wir nicht zu improvisieren, ohne zu sprechen – und sehen das als Herausforderung?“
Ein paar Shows habe es zum Eingrooven gebraucht, inzwischen sind die Darsteller ein eingespieltes Team mit zwei Programmen, einem dritten in Arbeit und einem vierten in Planung. Die Idee sei, nun auch internationales Terrain zu erobern, etwa auf Festivals in Holland oder Spanien, teils in kleinerer Besetzung. Heute in Palma stehen vier Darsteller auf der Bühne. Da hier keine Sprachkenntnisse nötig sind, eignen sich die Mutis-Shows perfekt für theaterliebende Residenten aus dem Ausland, die noch nicht ganz fit im Spanischen sind.
Temporeiche Szenenwechsel
Umso faszinierender, wie es die Schauspieler schaffen, sich ohne Worte die Bälle zuzuspielen, fast telepathisch zu verstehen. Nach einem interaktiven Warm-up, bei dem man als Zuschauer in der ersten Reihe gefährlich lebt, geht es los mit der temporeichen Show, die gestisches Theater mit Clown-Elementen und geballter Kreativität mixt. Die Darsteller ziehen Zettel, auf denen das Publikum im Vorfeld Orte notieren durfte, und entwickeln dann spontan kurze Szenen, untermalt mit Musik. Selbst wenn man einmal nicht ganz sicher ist, worum es geht, ist es ein Vergnügen, die Mimik, den Wagemut und die Spielfreude der Gruppe zu erleben.
Die vier loten das ganze Potenzial des Mondes aus – von der Beobachtung durchs Teleskop über die Landung bis zur romantischen Kulisse. Sie entern als Piraten ein Kreuzfahrtschiff, wo sie als Animateure missverstanden werden, jonglieren in Sóller mit imaginären Orangen oder stellen sich breitbeinig als äußerst überzeugender Eiffelturm auf. Oliver Romero entlockt den Zuschauern zum Finale ein kollektives, entsetztes Stöhnen, als er sich unsichtbare Gummihandschuhe überstreift, um eine proktologische Untersuchung vorzunehmen. „Wie krass, plötzlich wieder zu sprechen“, sagt er, als er sich später beim Publikum bedankt. Am Ende fühlt man sich, als hätte man 20 Action-Filmtrailer direkt hintereinander geschaut: leicht reizüberflutet, aber dabei bestens unterhalten.
Visitas Impro: Intim und musikalisch
Impro-Theater ist flüchtig, jeder Abend einmalig. Bei der Escena 101 kommt hinzu, das jede Kompanie bei dieser Kunst ihre ganz eigene Note einbringt. So herrscht am Folgeabend ein völlig anderer Vibe: Die von Lalo Garau geleitete Gruppe Visitas Impro zeigt mit „Personajes en blanco“ ein intimes und realitätsnahes Programm mit musikalischen Akzenten. Drei Frauen und ein Mann brauchen zunächst nicht mehr als eine Ausgangsfrage aus dem Publikum: „Woran glaubt ihr?“
Aus einem Gespräch über ihre eigenen Erfahrungen mit Religion entwickeln die vier in kürzester Zeit komplexe Figuren, die miteinander interagieren. Da ist die leicht verwirrte Büroangestellte Cris, die auf Sinnsuche ist und ihren Job verliert – zum Kummer ihrer Freundin und Kollegin Alicia, die regelmäßig Gespräche mit Gott, ihrem „Senyoret“, führt. Der Priester Miguel nimmt indes gerade die Beichte ab und stellt fest, dass er seine Jugendliebe Aurora vor sich hat: Damals im Zeltlager der Jesuiten in Binifaldó hatte er sich nicht getraut, seine Angebetete zu küssen.
Es folgen spontan komponierte Liebeslieder, zum Schreien komische Dialoge, große Gefühle und eine Fragerunde, bei der die Zuschauer die neu erschaffenen Figuren noch besser kennenlernen können. Fast ist man traurig, sich am Schluss von ihnen verabschieden zu müssen – im Wissen, dass es sie nur an diesem einen Abend auf dieser Bühne gegeben hat.
Epizentrum für Impro-Theater Escena 101, C./ Arxiduc Lluís Salvador, 101, Palma. Aufführungen jeweils um 20.30 Uhr, Eintritt: rund 12 Euro, Rabatte bei frühen Käufen, für Gruppen, Kinder und Rentner. Programm und Infos unter: escena101.com.
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